Out of Nordstadt
Ein Nordstädter leistet Flüchtlingshilfe auf Lesbos
Teil II - von Hendrik Müller
(Anfang verpasst? Hier geht's zu Teil 1)
Mein Tag geht morgens um sieben damit los, dass die Lautsprecher des nahe gelegenen Stadions schwungvolle Hits der Achtziger plärren und jemand endlos das Mikrofon auf Funktionstüchtigkeit testet - es ist Zeit für den Schulsport.
Ich mache mich zusammen mit dem Rüden Stella, der von einer Kollegin in der WG adoptiert wurde auf den Weg zum Bäcker und zu MyMarket, einem Supermarkt ganz in der Nähe. Stella hat bisher das Konzept des Gassi Gehens nicht so richtig geblickt und ist in der Regel spätestens verschwunden, wenn ich mit den Einkäufen beim Bäcker wieder heraus komme. Wenn ich Glück habe, wartet er vor der Haustür beim Appartment - wenn ich Pech habe kann ich die Töle in den umliegenden Parkanlagen suchen. Jedes Mal nach dem Einkauf schwöre ich mir, dass ich ihn am nächsten Tag nicht mehr mitnehme und jeden Morgen danach kann ich dem Pipi-in-den-Augen-Blick nicht widerstehen und die Posse beginnt von neuem.
Einen kurzen Moment der Ruhe stellt das Frühstück dar. Machmal schlurfen dann auch schon andere Mitbewohner durch den Kaffee-Duft angelockt herbei und wir wechseln noch ein paar Worte.
Dann mache ich mich mit dem Auto auf den Weg zum Händler, Sachen zu kaufen, die in der Küche benötigt werden. Vorher noch mal kurz das Handy checken, ob über Nacht noch Bedürfnisse dazu gekommen sind.
Oft sind dem Küchenteam überraschend die Zigaretten oder der Tabak ausgegangen - ich lerne im Moment rudelweise Raucher kennen.
Es gibt Händler, bei denen wir aufgrund von Spenden Dritter eine Art Kredit haben - aber es gibt auch Händler, bei denen wir für Bargeld billiger einkaufen können. Das hängt vom Wochentag ab und davon, welches Gemüse gerade billig ist oder nicht.
Wir versuchen immer, aus den Optionen das Günstigste heraus zu holen - die Nummer gleicht einem Glücksspiel.
Angestoßenes Gemüse bekommen wir auch schon mal geschenkt. Es lässt sich noch gut am selben Tag verkochen. Für die Essenskisten brauchen wir allerdings frische Zutaten, da die Zielpersonen keine Kühlmöglichkeit haben.
Der Einkauf bringt unser Auto oft an die Grenzen der Ladekapazität. Wir müssen darauf achten, dass wir nicht höher als die Fensterkante laden. Es kann zu Problemen führen, wenn die Inselpolizei die Gemüsekisten sieht.
Es gibt Beamte, die sich darauf spezialisiert haben, auswärtige Fahrzeuge mit "alternativ" aussehenden Besatzungen zu kontrollieren und mit einem Wust an Vorwürfen zu überziehen, die in die Beschlagnahme des Wagens münden. Gern wird unterstellt, man würde ohne Gewerbeschein Handel treiben, das Auto sei nicht verkehrssicher, man würde illegale Unternehmungen durchführen, es seien sicher Drogen im Auto versteckt - die Liste ist beliebig ausbaufähig.
Der Wagen wird dann vorübergehend beschlagnahmt und man kann ihn am folgenden Tag gegen eine Kaution bei der Polizeiwache abholen - die Ladung ist bis dahin vergammelt. Wenn's gut läuft, trifft man nach zehn Metern auf den Polizeibeamten vom Vortag, der genau dieselbe Nummer noch mal abzieht - einfach, weil man's kann.
Von solchen Szenarien wurde mir oft berichtet, auch von direkt Betroffenen. So fuhr mit mir auch immer die Befürchtung mit, in eine solche Situation zu geraten. Nun, während meines gesamten Aufenthalts hatte ich Glück - anscheinend sehe ich einfach zu alt aus, um in das Raster des Volontärs und Refugee-Helpers zu passen. Am Auto konnte es nicht liegen - jüngere Kollegen hatten in diesem Wagen "bessere" Chancen, in eine Kontrolle zu geraten.
Es ist relativ einfach, sich für Kontrollen auf die Lauer zu legen - es gibt wenige Hauptstraßen auf der Insel und sie kreuzen sich auch noch an wenigen, neuralgischen Punkten - wer da Position bezieht, hat früher oder später seinen Treffer.
Wir versuchen, den Standort der Küche geheim zu halten und achten immer auf das, was sich so im Rückspiegel abspielt. Wenn ein Polizeiwagen oder ein blauer Kleinwagen - aktuell das Fahrzeug der Zivilfahndung - auffällig lange folgt, wählen wir alternative Routen zur Küche. Natürlich kann bei den wenigen Verkehrswegen auch einfach so ein Wagen an der Stoßstange kleben, weil die Straßen ein Überholen schwierig machen.
So bin ich oft einen abstrusen Umweg zum Ziel gefahren, um eine Verfolgung auszuschließen.
Wenn ich an der Küche eintreffe, ist das Team vor Ort schon meist mit der Vorbereitung der Zutaten beschäftigt. Über die Wahl der Speisen entscheidet, was weg muss und ich bin immer wieder überrascht, was das jeweilige Team unter diesen Prämissen so zusammen zimmert. Es wird bei der Vorbereitung jede zuarbeitende Hand benötigt - ich habe inzwischen großes Können beim Säubern verschiedenster Gemüsearten entwickelt, kann Salatdressing in Limonadenflaschen mixen, hartnäckige Kochrückstände mit kaltem Wasser aus den Töpfen entfernen und weiß inzwischen, dass eineinhalb Eimer Kichererbsen für 200 Portionen genügen.
Die Kochutensilien sind aus verschiedenen Spenden zusammen gestoppelt. Alu- und Edelstahltöpfe in unterschiedlichen Verbeulungs-Stadien geben sich ein Stelldichein mit dazu nicht passenden Deckeln. Gekocht wird auf Bodenbrennern, die dem Aussehen nach in Pakistan vor Jahren für ein nie stattgefundenes Raumfahrtprojekt entwickelt wurden. Ich bin froh, dass wir Leute haben, die diese Dinger zur Mitarbeit überreden können.
Alle Bemühungen gipfeln gegen vier Uhr Nachmittags in die Abfüllung der Portionen - kurz vor fünf muss der Wagen mit der Ladung los zockeln. Ein Teil des Essens geht an die beiden Squats - der größte Teil ist aber für die Leute am Strand. Sie sammeln sich dort jeden Nachmittag zur passenden Zeit unauffällig auf Bänken und im Gebüsch sitzend und warten aufs Essen. Manche von ihnen haben keine Kochmöglichkeit. Für sie ist das Zeug, das ich bringe, die einzige Mahlzeit des Tages. Sie holen sich meist mehrere Portionen oder fragen, ob sie mehr als eine Flasche Wasser haben dürfen. Trotz der Not geht es hier sehr geordnet und entspannt zu. Es ergibt sich oft die Möglichkeit für ein paar nette Worte. Die verbindende Sprache ist Englisch - keiner kann es so richtig, aber aller versuchen, sich auf einem niedrigen Niveau zu treffen. Manchmal kommt man mit Französisch etwas weiter. Die Leute vermitteln ein Gefühl der Dankbarkeit und dass sie mich gern haben - aber was sollen sie angesichts der Abhängigkeit von meiner Dienstleistung auch machen.
Die Kochkisten zu verteilen ist da schon etwas spannender. Es gibt zwei unterschiedliche Touren, die zweimal die Woche gefahren werden. In den Squats gibt es immer ein großes Gedränge um die beste, vollste, schönste Kochkiste, obwohl auf jeder Kiste der Name des Empfängers steht. Es braucht immer jemanden vor Ort, der die Leute identifizieren kann, und man muss wachsam sein ob Leute mehrfach zur Abholung verschiedener Kisten kommen. Hier gilt oft "selber essen mach satt".
Es gibt aber auch konspirativere Übergabepunkte - etwa, dass man eine Kiste vor die Tür eines verlassen wirkenden Hauses stellt oder sich per Telefon an irgendeinem Punkt zur Übergabe verabredet.
Über der Essenverteilung schwebt immer das Risiko einer Polizeikontrolle. Ein Teil der Leute am Strand sind unregistriert auf der Insel und wollen es auch bleiben. Einer schaut immer, ob sich eine Streife nähert damit wir uns früh genug in "Touristen" verwandeln und die Leute sich ins Gebüsch verpissen können.
Der Tag ist mit der Verteilung des Essens nicht vorbei. Jemand muss in der Nacht bei der Küche bleiben, um im Fall einer Kontrolle darauf hin zu weisen, dass es sich um eine regulär gemietete Immobilie handelt, für die es einen richterlichen Durchsuchungsbefehl braucht. So ist jeder von uns mal gefordert, eine Nacht im Outback der Insel ohne Strom zu verbringen. Wir haben zwar zwei kleine Solar-Ladeeinheiten da draußen, die sind aber während des Tages sehr mit der Energieversorgung von Blutooth-Lautsprechern und Mobiltelefonen zur Beschallung mit den neuesten Hits aus der Heimat des Kochteams beschäftigt - da ist meist abends kaum noch Strom für die Beleuchtung oder das eigene Telefon übrig.
Häufig spiele ich abends noch Taxi- und Transportunternehmen, um Leute irgendwo hin zu bringen, Benzin für einen Generator zu besorgen oder andere Materialien zu transportieren. So ein Auto ist eine tolle Sache - und man kann damit rund um die Uhr Bedürfnisse stillen.Wenn ich mich gegen 23:00 aus dem Autositz pelle, um ins Bett zu gehen, kann es gut sein, dass jemand anderer den Schlüssel für weitere Transporte übernimmt.
Aktuell spitzt sich die Situation zu: Die Polizei hat die Räumung eines der Squats angekündigt. Dieses Mal bleibt es nicht bei der Ankündigung. Handwerker haben damit begonnen, auf die Mauern des Grundstücks Stacheldraht anzubringen, und haben den Leuten in dem besetzten Gebäude erzählt, dass das Gebäude von der Alpha-Bank gekauft wurde, die nun eine Räumungsklage angestrengt habe.
Die Bank ist bei den Griechen nicht unbedingt beliebt. Sie ist einer der großen Immobilienfinanzierer in Griechenland und wurde in der Finanzkrise mit europäischen Mitteln aufwändig gerettet. Die Bank hatte danach nichts Besseres zu tun, als Tausenden von Haus- und Apartmentbesitzern die Bude unterm Hintern weg zu pfänden, als die in der Krise die Kredite nicht mehr finanzieren konnten. So verwandelten sich Wohnungen reihenweise in leer stehende Spekulationsobjekte und alte Leute unvermutet in Hausbesetzer oder Obdachlose.
Nun geht es also um die Bruchbude, die unsere Leute besetzt haben. Die, welche keine Papiere haben, versuchen sich und ihre Habseligkeiten im Vorfeld in Sicherheit zu bringen.
Teilweise verfallen die Leute aber aber auch in eine sonderbare Lethargie. Sie meinen, sie würden doch sowieso verhaftet und schikaniert - da könnten sie auch genauso gut im Squat auf die Polizei warten, bis sie dann endlich kommt.
Entgegen allen Behauptungen, dass nach solchen Ankündigungen gar nichts passiert sei, kam es dieses Mal tatsächlich zur Räumung.
Morgens um acht drang die Polizei in das Gebäude ein und verhaftete zuerst einmal die anwesenden Europäer - kurze Zeit später transportierten sie dann auch die Flüchtlinge zur Polizeiwache in Mytilini. Die Polizeiwache ist so klein, dass es nicht möglich ist, die beiden Gruppen zu trennen, so dass die Europäer quasi eine Sicherheit dafür sind, dass alles mit rechten Dingen zu geht, niemand durch die Beamten misshandelt oder benachteiligt wird. Das heißt nicht, dass es da freundlich zu geht - man ist sehr bemüht, den Leuten zu verstehen zu geben, dass sie auf der Insel nicht erwünscht sind.
Ein Tag voller Bangen vergeht - es fehlen uns Informationen, wer genau verhaftet wurde. Wir verständigen einen befreundeten Anwalt.
Manche haben bei der Räumung ihre Papiere verloren - ihnen droht die Abschiebung, wenn nicht umgehend Ersatzpapiere oder die Originale herbei geschafft werden. Der Squat ist zurzeit aber nicht zu betreten und wird von einer Sicherheitsfirma bewacht.
Abends sind alle erkennungsdienstlich behandelt und mit diversen Vergehensvorwürfen überzogen - dann werden sie entlassen. Das Gefängnis hat nicht die Kapazität, um so viele Leute aufzunehmen. Man kann unter Aufsicht einzeln in das geräumte Gebäude, um eigene Dinge herauszuholen. So mancher findet trotzdem seine Papiere nicht mehr oder das zurück gelassene Handy. Es macht die Paranoia die Runde, dass die Geräte von der Polizei ausgelesen und wir dann alle abgehört würden. Für viele Dinge aus dem Squat gibt es erst mal keine andere Möglichkeit, als sie in der Küche zu lagern. Außerdem brauchen die Leute nun Schlafsäcke und Zelte für die Nacht - so etwas lagert noch da draußen. Wieder einmal treiben wir den Wagen an seine Belastungsgrenze.
Die folgenden Tage gestalten sich chaotisch. Unsere Leute sind überall im Gelände verstreut. Wenn sie eine Nacht irgendwo kampiert haben, werden sie am Morgen danach von der Polizei vertrieben, auch gerne mal wieder für einen Tag verhaftet. Einige der Zelte gehen verloren, weil sie durch Vadalismus zerstört werden. Wir haben keinen Ersatz mehr. Es wird zunehmend schwierig, den Leuten Essen zu bringen, da sie überall und nirgends sein können und es ihnen durch die Umstände oft unmöglich ist, zu einem verabredeten Zeitpunkt irgendwo Essen zu übernehmen. Sie sind frustriert über ihre Situation. "Egal, was wir machen und wo wir sind - die Polizei schikaniert uns sowieso", sagen sie und bauen ihr Nachtlager genau an derselben Stelle auf, wo sie am Morgen verhaftet wurden.
Wir werden gefragt, ob wir Fährentickets fürs Festland kaufen können. Die Leute versuchen ihr Glück, mit einem vom letzten Geld gekauften Ticket durch die Zugangskontrollen zur Fähre zu schlüpfen. Es gibt Situationen, da sind die Kontrolleure auf einem Auge blind. Oft genug aber landen die Leute auf der Polizeiwache und die Fährgesellschaft hat an einem ungenutzten Ticket verdient.
Die Räumungsaktion und die verschärften Polizeikontrollen fallen mit dem Saisonbeginn auf der Insel zusammen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es der Behörde darum geht, die Flüchtlinge aus den Bereichen zu verdrängen, die von Touristen frequentiert werden.
Wer nach Flüchtling aussieht wird jetzt in Mytilini bei jeder sich bietenden Gelegenheit kontrolliert. Der geräumte Squat lag wohl zu nah an der Stadt. Allerdings sind viele Hilfsdienste für Refugees in Mytilini und es bleibt den Leuten nichts anderes übrig, als sich in die Stadt zu begeben, wenn sie Hilfe brauchen.
Es gibt Flüchtlinge, die unter diesem Druck versuchen, mit der Fähre zurück in die Türkei zu gelangen. Sie wissen nicht oder wollen nicht glauben, dass sie - dort angekommen - sofort inhaftiert werden, um alsbald abgeschoben zu werden.
Wir sind alle sehr angespannt, weil man nie weiß, wer am nächsten Tag noch da ist und wie es weiter gehen soll. Die bei der Räumung erfassten Europäer müssen mit einem Gerichtsverfahren in Griechenland rechnen - die Anklagepunkte sind variabel schwer, je nachdem, wen man danach fragt.
Die betroffenen Flüchtlinge sind natürlich auch beschuldigt - aber niemand weiß, wo die wohl in einem halben Jahr sind, bzw. haben die nicht die finanziellen Mittel um überhaupt eine Strafe zu bezahlen - da hält man sich doch lieber an die, bei denen was zu holen ist.
Es geht das Gerücht, dass auch der zweite Squat geräumt werden soll. Es ist ein Komplex mit Gebäuden, die verschiedene Eigentümer haben, die aber nun angeblich alle an die Alpha-Bank verkauft haben sollen.
Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt.
Gestern ist an der Nordküste ein Boot mit 50 Flüchtlingen gelandet. In den Sommermonaten ist die See fast ohne Wellen - die Saison für die Boote hat begonnen. In Abhängigkeit davon, wie die Stimmung zwischen der Türkei und dem Rest der Welt ist, gelingt den Leuten jetzt die letzte Etappe ihrer Flucht.